Was ist die Ursache von Schmerz? Woher wissen wir, was uns fehlt? Was gilt es zu heilen?

Martin Lenz, November 2008, erschienen in „Körper-Geist-Seele“

Seelischer Schmerz ist die natürliche Reaktion auf eine Trennungserfahrung: Tod, Gewalt, Verlust, Kaltherzigkeit, Manipulation u.a. werden als Abtrennung vom Großen Ganzen, von einzelnen Menschen und von uns selbst wahrgenommen. Wenn diese Erfahrung nicht überwältigend ist, kann sie in einem angemessenen Zeitraum gefühlt und somit angeeignet, in das Selbst integriert werden. Ist dies nicht möglich, weil die Erfahrung zu gewaltig für den Organismus ist, muss sie verdrängt werden. Man spricht dann von einem Trauma. Der abgespaltene Schmerz führt nun ein Eigenleben, lange Zeit auch in dumpfer Latenz, aus der er aber schließlich in allen möglichen Verwandlungen, in der Form von ähnlichen Erfahrungen, psychischen oder körperlichen Symptomen hervortritt, um sich in Erinnerung zu bringen, um zu einem späteren Zeitpunkt einen Integrationsprozess in Gang zu setzen. Der abgespaltene Schmerz fehlt dem Selbst zu seiner Ganzheit und will ins Bewusstsein zurück. Wenn diese Rückkehr gelingt, wenn die traumatische Erfahrung durch gefühlsmäßiges Wiedererleben bewusst angenommen werden kann, spricht man von Heilung.

Die Anwendung der Systemtheorie auf menschliche Beziehungsgeflechte, vor allem auf die Familie, und die Erfahrungen mit den System- und Familienaufstellungen haben gezeigt, dass die oben beschriebenen Vorgänge der Traumatisierung und Heilung sich nicht nur auf subjektiv tatsächlich gemachte Erfahrungen beschränken, sondern dass Traumata auch über die Generationen hinweg unbewusst weitergegeben werden. Kinder nehmen vor allem über ihre Eltern den verdrängten Schmerz im System wahr. Tiefe Bindungsliebe führt zur Weiterführung auch von destruktiven Mustern im Sinne des Gefühls der Zugehörigkeit. Eine archaische Allmachts- und Ausgleichsvorstellung treibt die kleinen Kinder oft auch in die Position des Helfers und Retters: „wenn ich mich opfere, also leide, sühne oder sogar sterbe, können Mutter, Vater und die Anderen leben oder erlöst werden“. Auf diese Weise wird der Schmerz aber nicht integriert, sondern setzt sich als Kette des Leidens, in Form von neuen schmerzhaften Erfahrungen, fort. Man muss diesen Vorgang aber auch als einen Versuch des Systems begreifen, den abgespaltenen Schmerz in Erinnerung zu bringen und Heilung anzuregen.

Systemisch bedingter Schmerz kann sehr gut durch Familienaufstellungen geheilt werden. Das anfangs durch den Klienten aufgestellte sogenannte Problembild zeigt dem erfahrenen Beobachter oft schon was im System fehlt bzw. durcheinander ist, also was dort an schmerzvollen Erfahrungen abgespalten wurde bzw. auf welche Weise der Klient verstrickt ist. Für die Heilung und Lösung stellt sich die Frage: wer muss wen oder was anschauen, wahrnehmen und fühlen, was muss ausgesprochen werden? Viele sinnlich-konkrete Bewegungen führen in der Dynamik der Aufstellung in der Regel bis zu einem Lösungsbild für den Klienten, in dem er sich auf bewusste Weise liebend mit seiner Familie verbunden weiß. Manchmal ist es auch schmerzhaft, auf die kindliche Illusion des Helfens zu verzichten, zumal, wenn dieses Muster schon einen großen Teil des Lebens bestimmt hat.

Ein konkretes Beispiel aus meiner Praxis mag die Vielschichtigkeit des Prozesses verdeutlichen: Eine etwa 40-jährige Frau gab Schlafstörungen, Depression, Existenzangst, eine schlechte Beziehung zu ihrer Mutter und die Schwierigkeit, eine erfüllende Partnerschaft zu finden, an. Die heilenden Bewegungen hingen hier zunächst mit den Eltern der Mutter zusammen. Der Großvater hatte im Krieg Schweres erlebt, die Großmutter war ein uneheliches Kind, welches lange Zeit geheim gehalten wurde. Beide stellten sich so gut es ging ihren schmerzvollen Erfahrungen. Die Klientin musste erkennen, dass sie den beiden nicht helfen kann, was sie schließlich auch erleichterte und zugleich ihre Verbindung bewusst spüren ließ. Nachdem ihre Mutter wieder Kontakt zu ihren Eltern herstellen konnte, war diese auch für sie selbst als Mutter wieder erreichbar. Dann ging es darum, die Verantwortung für die Abtreibungen der Großmutter und der Mutter bei diesen zu lassen, vielmehr die Verantwortung für die eigenen Abtreibungen zu übernehmen, auch zu sehen, wie sich hier ein Muster fortgesetzt hat. Schließlich nahm die Klienten ihr große Liebe für die abgetriebenen Kinder, schließlich auch für das einzige lebende Kind wahr. Dann weitete sich der Blick auf die dazugehörigen Väter und schließlich auf alle wichtigen Männerbeziehungen. Auch hier galt es, einigen verdrängten Schmerz zu fühlen. Schließlich war noch wichtig, von dem schweren Schicksal eines Partner nichts mittragen zu wollen, es mit Liebe ganz bei ihm zu lassen. Nach mehreren Aufstellungen und Sitzungen ging es der Klienten psychisch und körperlich viel besser, der Kontakt insbesondere zur Mutter, aber auch zum Kind und zum jetzigen Partner wurde intensiver und wärmer, sie traute sich zunehmend mehr zu und entdeckte neue schöne Seiten an sich.

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