60 Jahre Kriegsende – Dimensionen des Familienstellens

Martin Lenz, Mai 2005
erschienen in: „Körper-Geist-Seele“ und „Systemische Aufstellungs-Praxis“

Als ich vor zwei Jahren in der Stralsunder Nikolai-Kirche dieses Kriegsopferdenkmal von Schwegerle sah, musste ich weinen. Natürlich dachte ich daran, dass in beiden Weltkriegen Männer aus der Familie meines Vaters als Soldaten ums Leben kamen, dass mein Vater selbst als 18jähriger schwer verwundet wurde und fortan invalide blieb, dass 1945 beide Familien meiner Eltern auf die Flucht gingen und so die Heimat im Osten verloren. Aber warum wurde mir plötzlich so deutlich fühlbar, dass das ganz unmittelbar Auswirkungen auf mich hatte und immer noch hat? Und warum fühlte ich mich nach einer Weile erleichtert und erlöst?
Das bewirkte Schwegerles Skulptur, die in dem Kirchenraum eine Haltung verkörperte und eine Gefasstheit auf mich ausstrahlte, wie ich sie in bezug auf dieses Thema so noch nicht gesehen hatte. Hier fehlte einerseits jede Spur von Verklärung und Heldenverehrung, wie ihn viele Kriegsdenkmäler der 20er und 30er Jahre haben. Gefühle wie Schmerz und Scham waren also erlaubt. Aber es war andererseits auch kein persönliches Erleben dargestellt, sondern hier gewann eine kollektive Dimension Form.
Dieser Soldat, der für ganze Soldaten-Generationen, ja in seinen übermenschlichen Dimensionen sogar für Deutschland stehen kann, scheint den Willen einer größeren Macht zu empfangen. Seine Hände sind offen nach oben gerichtet, seine Haltung die eines Gekreuzigten. Er ist seinem Schicksal ergeben. Sein Gewand ist nicht das eines Kriegers, sondern das eines Todgeweihten oder eines Bußgängers. Seine Augen sind geschlossen, er wirkt wie lebendig tot, wie zum Tode verurteilt. Seine Glieder sind unheimlich starr, so als würde das Kreuz, sein Kreuz, sich in seinem Inneren befinden, wie Totenstarre, aber auch Starrheit der Macht, die sein Schicksal leitet. Es gibt kein Entrinnen.
Diese Skulptur sprach meine Seele an, löste etwas Festes, Verwirrtes, befreite etwas lang Ersehntes. Ich wusste nun, dass es eine Verbindung geben konnte, dass es mir möglich war, das schwere Erbe anzutreten, vielleicht mit Gewinn. Ich weinte, erst schmerzlich, dann erlöst.

Das Jahr 1945 erschien mir immer als die gewaltigste Zäsur in der deutschen Geschichte. Wollte ich im Bewusstsein in die Zeit vor 1933 gehen, war es wie ein Sprung über einen dunklen Graben. Die Zeit des „3. Reichs“ selbst kam mir lange völlig tabuisiert vor bzw. es gab einen Verhaltenskanon von Scham und Verurteilung, wenn man sich öffentlich damit auseinander setzte. Die privaten Erzählungen, insbesondere meiner Eltern, standen manchmal im Kontrast zu dem öffentlichen Bild, manchmal machten sie das Schreckliche für mich erfahrbar.
Heute, 14 Jahre nach der Wiedervereinigung, scheint dieses Thema präsenter denn je und es gibt umfangreiche und differenzierte Darstellungen in Büchern, Filmen und Diskussionen. Von „Hitlers langem Schatten“ ist die Rede. Warum also lässt uns das „3. Reich“ immer noch nicht los? Metaphorisch gesprochen: weil es um unsere Anerkennung ringt! Unsere Schattenkämpfe mit den Rechtsradikalen, die Irritationen in der Diskussion um den Begriff einer deutschen Kultur und um die Zuwanderungs- und Migrantenpolitik, die Anhäufung von öffentlichen und privaten Schulden und überhaupt eine allgemeine Orientierungs- und Kraftlosigkeit, besonders in der Politik und in der Jugend, zeigen für mich, dass wir große Teile unseres dunklen Erbes nicht anschauen oder ablehnen, dass wir von dieser Energie immer noch beherrscht werden oder sie uns nicht als Kraft unserer Ahnen zur Verfügung steht.
Es scheint zwei Formen der Nichtanerkennung zu geben. Das eine ist das Nicht-wahrhaben-wollen. Hier wird etwas vergessen, verdrängt, verleugnet, bagatellisiert, heroisch verklärt usw. Dies traf natürlich besonders schon auf die Generation des „3. Reichs“ selbst zu. In den Jahren nach 1945 war es offensichtlich zu schwer, sich dem großen inneren Elend zu stellen. Man konnte und wollte Schmerz, Scham und Demütigung nicht, oder nicht umfassend fühlen.
Dann kam in Westdeutschland eine neue Generation, die sogenannten 68er, und mit ihr als eine Art Gegenbewegung vollzog sich das Nichtanerkennen in Form der aktiven Ablehnung. Hier findet sich Überheblichkeit und moralische Entrüstung, man fühlt sich besser, verurteilt andere und spricht ihnen die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen (Familie, Nation), ja sogar das Menschsein ab.
Vielleicht sind wir heutigen, als eine 3. Generation sozusagen, in der Lage, dass schwierige Erbe anzutreten. Was ist zu tun? Allgemein gesprochen, muss die noch verfestigte Energie des „3. Reichs“ durch Anschauen, Bekenntnis und Trauer gelöst werden, durch Tränen, durch Gefühle wieder flüssig gemacht werden. Die Skulptur Schwegerles konnte das bei mir zu einem Teil bewirken.

Nun gibt es eine andere, eine therapeutische Kunst, mit der ich zuerst als Klient, dann als Leiter und Therapeut Erfahrungen zum Thema unserer deutschen Vergangenheit und was diese in unseren Familien bewirkt, machen konnte: das Familien-Stellen. Wesentliche innere Bilder unserer Seele werden hier im Außen sichtbar gemacht, indem menschliche Stellvertreter für die darin enthaltenen Personen im Raum zueinander aufgestellt werden. Auf diese Weise entsteht das sogenannte wissende Feld: die Stellvertreter fühlen wie die tatsächlichen Personen. In den Aufstellungen ist es nun über verschiedene Schritte möglich, Heilungsarbeit zu verrichten. Heilung bedeutet hier, dass letztlich alle wichtigen familiären Ereignisse anerkannt werden und dass alle, die zur Familie dazu gehören, einschließlich der Toten, also alle die noch innerlich wirksam für uns sind, am richtigen Platz da sein dürfen. Diese Heilungsbilder sollen in der Seele weiterwirken.
Wird etwas unbewusst oder bewusst ausgegrenzt oder abgelehnt, hat es meistens mit schweren Schicksalen wie frühem oder tragischem Tod, Schuld oder Verlust zu tun. Hier haben wir Berührungsangst oder lehnen etwas aus moralischen Gründen ab. Die Folge ist, dass wir an das Schlimme gebunden bleiben. Symptome dieser unheilvollen Bindung sind: Sog zum Tod (Depression, Krankheiten, Unfälle, Selbstmord), Sog zu etwas Fehlendem (Sehnsucht, Sucht), Drang, etwas Unbestimmtes lösen zu wollen (Unruhe, Aggression), unerklärliche Selbstbestrafung (Unglück, Scheitern, Schulden) oder undefinierbare Angst.
Die Erlebnisse der Ahnen aus der Zeit des „3. Reichs“ nehmen in Deutschland einen hohen Anteil am schweren Schicksal in den Familien ein. Ich bringe jetzt zwei Beispiele aus meiner Praxis:
1. Ein junger Mann will die Beziehung zu seinem Vater klären. Seine Eltern trennten sich als er klein war. Er lebte erst bei der Mutter, dann einige Jahre beim Vater. Auf ihn ist er wütend, weil er ihn als Vater nicht greifen konnte. Der Vater des Vaters fiel im 2. Weltkrieg, als sein Sohn noch ganz klein war. In der Aufstellung zieht es den Stellvertreter des Vater hinaus aus der Familie, er schaut in die Ferne, ist aber unberührt, wie leblos. Stattdessen sind seine Kinder sehr unruhig, insbesondere der Stellvertreter des jungen Mannes ist auch sehr böse auf den Vater. Als ich dann einen Stellvertreter für den Großvater in die Blickrichtung des Vaters stelle, wird dieser lebendig. Am Ende zieht es ihn in die Arme seines im Krieg gefallenen Vaters. Beim Stellvertreter des jungen Mannes löst sich nun langsam die Wut, ungläubig nähert er sich und als er schließlich schweigend von den beiden anderen Männern aufgenommen wird, bricht der Schmerz aus ihm heraus. Am Ende stehen Vater und Sohn, nun der Klient selbst, in Liebe beieinander. Der Großvater löst sich mehr und mehr von ihnen und schaut von einer gewissen Entfernung wohlwollend auf sie. Es ist aber auch klar, dass es ihn zu den Toten des Krieges (Opfer oder Schicksalsgefährten) zieht.
2. Eine Frau fühlt sich durch ihren aggressiven Nachbarn bedroht. Mitunter schießt er mit einem Luftgewehr in seiner Wohnung über der ihrigen. In der Aufstellung stellt sich heraus, dass der Stellvertreter des Nachbarn für eine Gruppe von Menschen steht, die irgendwie bedrohlich wirkt. Die Klientin, von Anfang an selbst in der Aufstellung, ist sehr unruhig, läuft hin und her, fühlt Anziehung und Abstoßung zu der Gruppe. Schließlich bringe ich die Mutter der Klientin, die 1945 von Russen vergewaltigt wurde, dazu und bitte sie, ihrem Impuls zu folgen. Auch diese fühlt Anziehung und Abstoßung zu der Gruppe, die sie als die Russen wahrnimmt. In einem langen Prozess nähert sich die Mutter den Russen und findet am Ende ihren Platz und Frieden bei ihnen, insbesondere bei einem der Täter. Die Tochter ist ruhig geworden. Unter stummen Tränen lässt sie ihre Mutter ziehen. Es ist schmerzvoll, aber sie fühlt sich schließlich freier. Insgesamt dauert diese Aufstellung etwa 50 Minuten. Der aggressive Nachbar offenbarte sich uns als ein Zeichen für das nichtanerkannte Schicksal der Mutter, einschließlich der dazu gehörenden Russen.
Der erste Schritt ist, dass wir unsere Ahnen und ihr jeweils besonderes Schicksal achten, indem wir den Tätern nicht mehr böse sind und den Opfern nicht mehr helfen wollen, indem wir sie achten als Menschen, die verstrickt waren in eine große Bewegung, die ihnen viel abverlangt hat. Wenn sie zu Schuldigen geworden sind, gilt es, ihre Schuld und ihre Verantwortung dafür anzuerkennen als die ihrige, statt stellvertretend zu sühnen und selbst einen Platz neben den Opfern einzunehmen. Wenn wir uns ohne Urteil, ja mit Liebe neben die Schuldigen stellen, werden sie befreit aus ihrer Starre und können weich und menschlich werden, sich bewegen und auf ihre Opfer schauen. Der Schmerz, der dann für sie fühlbar wird, ist auch der Schmerz der Vernichtung des Menschlichen in ihnen selbst. Den Opfern unserer Familie muten wir ihr Schicksal zu. Wir können es für sie nicht wiedergutmachen, nur sie selbst können es tragen. Wir achten sie als die Größeren und verzichten auf unsere kindlichen Allmachtsphantasien. Schließlich lösen wir uns in Frieden von unseren Ahnen und lassen sie ziehen: zu ihren Opfern, Tätern und anderen Schicksalsgefährten, mit denen sie aufgrund der Schwere des Ereignisses unlösbar verbunden bleiben. So im Totenreich vereint finden sie Frieden und können, gerade auch weil sie das Schlimme durchlebten, eine besondere Kraft spenden. Wir verlieren nun nicht länger Lebensenergie in der Verstrickung mit ihnen, sondern können an unserem Platz, mitten im Lebensstrom, unser eigenes Schicksal erfüllen.

Warum also lässt uns das „3. Reich“ immer noch nicht los? Weil wir es noch nicht loslassen können! Weil wir vor allem immer noch urteilen über viele, die in der Zeit des 3. Reichs lebten und handelten. Was aber wäre möglich, wenn wir die deutschen Täter und Opfer von damals anerkennen würden als Menschen wie wir? Unsere Arroganz ist ja eigentlich Angst und Abwehr gegenüber dem Schrecklichen, vor allem der Ahnung, wir wären im „3. Reich“ eben nicht Widerstandskämpfer, sondern ohnmächtiger oder gar machtlüsterner Teil der gewaltigen Bewegung gewesen. Dem in der Seele nachzuspüren, erfordert Demut und die Konfrontation mit unserer größten Angst: zu sehen, dass wir Menschen unser Schicksal nicht in der Hand haben.

zurück